zum Thema Mentalität hab ich gerade noch einmal hier gesucht:
GRIECHENLAND + und der Euro - Bankenrettung 2.0
und wurde fündig.
Noch einmal - immer noch aktuell - mehr als je zuvor
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10.05.2010
Ich sage es mal so.
Willkommen in der Realität.
Ich glaube, der spricht das aus was ca. 98% der Bevölkerung denken und tun.
Das es eine Finanzkrise gibt und das diese das leben verändert bekommen die erst mit, wenn es sie persönlich betrifft.
Das tut es im Moment noch nicht.
Der ostdeutsche Grieche
Jochen-Martin Gutsch
Vor ein paar Tagen wurde ich gefragt, wie ich die Lage in Griechenland einschätze. Ich saß in einer Konferenz, die Kollegen hatten bereits ihre Griechenland-Analysen vorgetragen. Nur ich fehlte noch.
Eine Pause entstand.
In solchen Momenten möchte ich mich am liebsten auflösen.
Es ist ein Gefühl, das mich seit meiner Kindheit begleitet.
Damals wurde ich gefragt:
Wie stehst du zu Nicaragua, Jochen?
Wie stehst du zum Nato-Doppelbeschluss?
Wie denkst du über die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik?
Welche Bedeutung hat die Historische Mission der Arbeiterklasse für dein Leben?
Ich war zehn, zwölf oder fünfzehn. Die Fragen rollten auf mich zu. Mein Kopf wuchs.
Später, im Westen, dachte ich dann: Es ist vorbei, endlich. Aber es hört nie auf.
Zu Griechenland kann ich Folgendes sagen:
Dort wurde praktisch alles erfunden.
Die Demokratie, die Philosophie, die Olympischen Spiele, der Marathonlauf, der Satz des Pythagoras, der Waldbrand und der Grillteller Akropolis.
Mit Griechenland verbindet mich ein emotional bewegendes Ereignis meiner jüngeren Biografie: meine erste West-Reise.
1991 stieg ich am Alexanderplatz in einen Bus, der mich in zwei Tagen über Jugoslawien nach Griechenland brachte.
Der Strand war steinig, die griechischen Frauen trugen Schnurrbart, der Himmel war blau wie eine verwaschene 501 und ich dachte:
Griechenland ist das Bulgarien der Westdeutschen.
Dann fuhr ich zurück und kam nie wieder.
Da ich keinen Griechen kenne, habe ich mit meinem Kumpel J. über Griechenland gesprochen. J. ist Spanier und somit kulturell, emotional und finanziell ein enger Verwandter des Griechen.
Er sagt: Den Spaniern fehle seit Jahrhunderten die Fähigkeit, ernsthaft besorgt zu sein. Gleiches lasse sich auch über die Griechen sagen.
Ich habe in der ganzen Griechenland-Aufregung keine klügere Griechenland-Einschätzung gehört, als die meines Kumpels J.
Es ist, sozusagen, ein genetisches Problem.
Der Asiate verträgt keinen Alkohol.
Der Grieche verträgt keine Sorgen.
In meinem Herzen fühle ich deshalb eine tiefe Griechen-Solidarität.
Ich habe sogar Gemeinsamkeiten festgestellt, finanziell gesehen.
Ich verfüge über wenig Haushaltsdisziplin.
Die Frage, wie viel Geld ich im Monat ausgebe, kann ich nicht beantworten. Auch auf der Einnahmeseite verfüge ich nur über grobe Schätzungen.
Auf meiner Kommode im Flur liegen Briefe, auch von meiner Bank, die ich beantworten müsste, die ich zuvor aber öffnen müsste, was ich dann aber nicht tue, weil ich oft denke: Warum heute? Draußen scheint die Sonne.
Fragt mich jemand nach einer guten Geldanlage, sage ich: Sparschwein. Ich bin aufgewachsen in griechisch-ökonomischen Verhältnissen - mit Günther Mittag als Wirtschaftslenker, einer Währung aus Aluminium, Kuchenbasaren als Freihandelszone, in einem Land, das immer pleite war.
Womöglich ist der Ostdeutsche dem Griechen näher, als man denkt.
Zurzeit wache ich morgens auf und lese Zeitung. Griechenland zerfällt, der Euro wird weich, Europa, meine Heimat, wankt und dann gucke ich aus dem Fenster und alles ist wie immer.
Das irritiert mich.
Vor der Griechenland-Krise gab es die Finanzkrise, wobei ich nicht weiß, ob die Finanzkrise noch andauert, vorbei ist oder mit der Griechenland-Krise unter einer Decke steckt.
Ich habe damals jeden Tag damit gerechnet, dass die Krise mein Leben verändert.
Man kann sagen, ich saß krisenmäßig auf gepackten Koffern.
Dann schaute ich aus dem Fenster und alles war wie immer.
Es war wie die Begegnung mit einem Phantom.
Der Krisen-Sensenmann ging um. Aber ich sah ihn nicht.
Ich habe die Finanz-Krise bis heute nicht verstanden.
Nach all den Monaten. Sie ist wohl dort draußen, irgendwo. Womöglich wende ich mich wieder mehr emotionalen Krisen zu. Back to the roots. Liebes-Krisen, Lebens-Krisen, sportlichen Krisen.
Dort fühle ich mich zu Hause.
Man kann sich die Dinge nicht aussuchen.
„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“
(Albert Einstein, 1879–1955)