
Heulen für Athen
Die Griechen fürchten den Staatsbankrott:
Der Lehrer kann sein Auto nicht mehr zahlen,
dem Tavernenwirt fehlen Gäste -
und im Nachtklub kreuzt die Steuerfahndung auf.
Sie ahnen, dass etwas Schlimmes kommt, und sie merken, dass sich etwas ändert, aber wann und was genau wird kommen?
von Gerd Höhler
ATHEN. Lambros Papaioannou räumt mürrisch die leeren Teller von Tisch Nummer sechs. "Das war kein guter Tag", sagt er.
Auf den weißblau gedeckten Tischen seiner Taverne flackern kleine Öl-Lämpchen, es stehen allerlei Schiffsutensilien herum, an den Wänden hängen alte Stiche: Akropolis, Poseidon-Tempel am Kap Sounion und andere antike Stätten.
Lambros Papaioannou hat gutes Essen, bezahlbar, vier Euro kosten die "choriatiki", der typische griechischen Landsalat, acht Euro die "keftedakia", die Hackfleischbällchen in Tomatensauce. Er besitzt keine Aktien, der schlimme Kurssturz an den Börsen heute trifft ihn also nicht. Und er gibt längst gibt er nichts mehr darauf, was Politiker sagen; also kommt er sich von ihnen jetzt nicht mehr betrogen vor als früher.
Doch all das hilft Lambros Papaioannou aus Rafina, einer kleinen Hafenstadt nordöstlich Athens nichts, er kann die Welt nicht aus der "Elia" heraushalten, spätestens seit diesem Dienstagabend nicht.
Vor wenigen Stunden hat die Rating-Agentur Standard & Poor's griechische Staatsanleihen auf Ramschniveau herabgestuft, und Giorgos Papandreou, der Premierminister, sagte, die Griechen müssten nun besonders zusammenstehen, "in der schwersten Krise seit Jahrzehnten".
In der "Elia" heißt das: leere Tische.
Zwei Rentner aus der Nachbarschaft an Tisch vier. Vier junge Touristen aus Kanada, die sich am Fenstertisch den Tischwein schmecken lassen. Das war's. Das junge Paar gleich neben der Küchentür zählt nicht. Es ist Lambros Papaioannous Sohn mit seiner Frau. "Die essen hier, weil es sie nichts kostet." Sie tun, was nun alles Griechen tun.
Sie überlegen sich sehr gut, wofür das Geld noch reicht.
Lambros macht jetzt ein Viertel weniger Umsatz als noch vor einem Jahr. Er braucht das Lokal und seine Einnahmen. Er ist 66, er kriegt 550 Euro Rente, das reicht nicht. "Deshalb führe ich den Laden weiter, so lange es geht", sagt er. Er hofft, dass es nicht noch härter kommt. Aber er ahnt Schlimmes.
"Vielleicht zahlen wir schon bald wieder in Drachmen."
Immer mehr Griechen haben Angst. Denn immer neue Gerüchte laufen um: dass der Staat schon im Mai keine Renten mehr zahlen könne; dass die Regierung die Bankguthaben beschlagnahmen werde; dass über Nacht der Euro abgeschafft und die Drachme wieder eingeführt werde. Scheine seien schon gedruckt, heißt es. Sechs von zehn Griechen fürchten einen bevorstehenden Staatsbankrott.
Lambros auch. Er muss nur runter zum Hafen gucken. Dort legen die Fähren nach Andros, Tinos und Mykonos ab.
Drei Tage lang war der Hafen zuletzt dicht, kein Schiff konnte auslaufen. Demonstranten hatten die Anleger blockiert.
Also sitzen die jungen Kanadier jetzt in Lambros' Taverne und trinken Tafelwein. Sie haben wegen der Streiks ihren Rückflug verpasst.
Es ist ihr erster Urlaub in Griechenland. Und ihr letzter. "100 Euro für ein Zimmer ohne Bad, 18 Euro für eine Liege am Strand: das können wir uns nicht leisten", sagt einer von ihnen. Und die Gewerkschaft hat schon die nächsten Hafenblockaden geplant, Termin: 1. Mai.
"Wenn sie jetzt auch noch den Tourismus kaputtstreiken, gehen in Griechenland die Lichter aus", sagt Lambros, der Wirt.
Er ist nachdenklich geworden. Hat er sich etwas vorzuwerfen? Ist auch er Schuld, dass in seinem Land nichts mehr geht ohne viele Milliarden von den anderen Europäern?
Er sagt: "Nicht nur der Staat hat über seine Verhältnisse gelebt, sondern auch viele Bürger. Fragen Sie mal meinen Sohn."
Loukas ist 34 und Lehrer an einer Oberschule, Sport, Mathematik und Physik.
Er kann rechnen, aber wenn es ums Geld ging, hat auch er es mit den Zahlen nicht so genau genommen. "Wir haben uns übernommen", sagt er nun. Erst die Hypothek für die Eigentumswohnung, dann der Kredit für das neue Auto, Ende letzten Jahres schließlich der große Flachbild-Fernseher. Knapp 1400 Euro netto verdient Loukas. Seine Frau kümmert sich um die kleine Tochter. Nach Abzug aller monatlichen Raten blieben ihnen 500 Euro für Lebensmittel, Strom, Telefon und Kleidung. Bisher.
Jetzt sind es noch einmal 90 Euro weniger.
Die Regierung hat die Gehälter im öffentlichen Dienst gekürzt. Es ist ein Teil des Sofort-Programms, mit dem Finanzminister Giorgos Papakonstantinou den Staatshaushalt sanieren will.
Der Staat sitzt in der Schuldenfalle, viele seine Bürger sitzen auch drin.
Welches Sofort-Programm hilft mir, fragt sich Loukas Papaioannou, der Sohn des Tavernenwirts Lambros Papaioannou.
Aufs Auto verzichten? "Ich würde ja. Aber verkaufen kann ich es nicht. Ich habe ja erst viertausend Euro abbezahlt."
Sein Vater macht ein angewidertes Gesicht.
"Zu meiner Zeit gab es keine Ratenkredite, und trotzdem habe ich Dich zur Uni schicken können. Schuld", so glaubt er, "ist der Euro."
Da ist was dran.
Als es den Euro noch nicht gab, konnten die Griechen ihre Exportwaren und Tourismusdienstleistungen billiger anbieten. Zum Beispiel, indem sie ihre Drachme im Vergleich zu D-Mark, Dollar und Francs immer wieder abwerteten. Jetzt geht das nicht mehr.
Als es den Euro noch nicht gab, haben die Menschen keine Kredite aufgenommen, die sie in Raten zurückzahlen mussten - um Autos, Fernseher oder Wohnungen zu kaufen. Man sparte, die Bank gewährte hohe Zinsen, und wenn man das Geld beisammen hatte, kaufte man eine Waschmaschine oder ein Auto. Sonst nicht.
Dann kam der Euro und ermöglichte den Griechen plötzlich Wohlstand, den sie sich vorher nie hätten leisten können. Einen Wohlstand auf Pump.
Seit es den Euro gibt, haben die Banken das Fünffache an Krediten ausgegeben:
36 Milliarden Euro. Der Gesamtwert aller im Land hergestellten Waren und Güter aber hat in dieser Zeit gerade einmal um die Hälfte zugenommen.
Die Kluft zwischen fiktiven Werten und wirklichen Werten wurde immer größer. Die Banken hat das nicht gestört, denn sie verdienten lange Zeit gut daran.
"Man hat uns die Kredite regelrecht aufgeschwätzt", sagt Loukas? Frau.
Sie wird jetzt ärgerlich. "Noch vergangenes Jahr bekam ich an manchen Tagen Anrufe von zwei, drei Banken, die mir günstige Darlehen und neue Kreditkarten andrehen wollten." Jetzt fürchtet die junge Mutter jeden Tag, dass die Bank sich wieder meldet. Dieses Mal, um die Kreditkarten zurückzuverlangen.
Ihr Mann ist Lehrer, unkündbar, eigentlich. "Aber was bedeutet das heute noch? Langsam bekomme ich richtig Angst."
Gut möglich, dass sie ihre Kreditkarte nicht zurückgeben muss, aber trotzdem kein Geld mehr bekommt. Sie nicht und Tausende andere Griechen nicht. Weil es vielleicht schon bald einige Banken nicht mehr gibt, die Kreditkarten zurückfordern könnten.
"Der Euro", sagt ihr Schwiegervater noch einmal, "ist unser Fluch."
Seine letzten Gäste sind gegangen. Draußen ziehen drei Straßenmusikanten vorbei, der Musik nach zu urteilen Migranten aus der früheren Sowjetunion. "Jetzt schreiben Sie wahrscheinlich, dass es Griechenland zugeht wie auf der Titanic, wo die Kapelle bis zum Untergang spielte", sagt Lambros.
Es ist Mitternacht, er knipst das Licht aus.
