Der Ursprung der Kulturkriege

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schneller euro
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Der Ursprung der Kulturkriege

Beitrag von schneller euro »

Blutiges Abendland: Die meisten Opfer forderte der Haß zwischen europäischen Verwandten

Den "Krieg der Kulturen" hat nicht Samuel Huntington erfunden. Vom "guerre des cultures" spricht Julien Benda in seinem 1927 erschienenen Buch "La Trahison des Clercs" (Der Verrat der Intellektuellen). "Daß der politische Krieg den Krieg der Kulturen impliziert, ist eine Erfindung unserer Zeit", schreibt Benda, "und sichert ihr einen herausragenden Platz in der Moralgeschichte der Menschheit. Heute stellt jedes Volk selbstverliebt seine ganze "Kultur" allen anderen Völkern entgegen."

Benda ist kein "Vorläufer" Huntingtons. Es geht bei ihm um Auseinandersetzungen innerhalb des Okzidents. West-östliche "Kulturkriege" oder Konflikte zwischen religiös geprägten und laizistischen Gesellschaften kommen nicht in den Blick. Die Aktualität Bendas liegt darin, daß er eine Hauptthese der Kritiker von Huntington bekräftigt: Bis jetzt sind intra-kulturelle Konflikte blutiger verlaufen und haben weit mehr Opfer gekostet als Kriege zwischen den Kulturen. Benda fragt sich, seit wann innerhalb des christlichen "Abendlandes" Kriege durch den Rückgriff auf kulturelle Wertvorstellungen gerechtfertigt wurden.

Den ersten dieser Kulturkriege führen angeblich die Deutschen. Es ist, Anfang des 19. Jahrhunderts, Preußens Kampf gegen Napoleon. Bis dahin werden Kriege von Monarchen, Dynastien und Feldherren mit politischen Ambitionen geführt. Gerechtfertigt werden sie - meist in zynischer Offenheit - mit Gebiets- und Machtansprüchen. Ideen und Ideologien müssen zu ihrer Legitimation nur selten herhalten. Das ändert sich in den preußischen Freiheitskriegen. Dichter und Denker indoktrinieren das Volk, sich im Namen der deutschen Kultur gegen Frankreich und gegen die napoleonischen Heere zu erheben.

Von "Verrat" spricht Benda in diesem Zusammenhang, weil es in seinen Augen Aufgabe der Intellektuellen ist, sich für universale Werte und nicht für nationale Ideologien einzusetzen. Die französischen Revolutionsheere, die in Europa die Monarchie beseitigen wollen, führen keinen Kulturkrieg. Sie kämpfen nicht für französische Werte, sondern für die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte.

Die deutschen Dichter und Denker dagegen, schreibt Benda, verraten die Sache des Geistes: Ihr militanter Kulturpatriotismus wird zum Handlanger nationalistischer Politik. Das preußische Vorbild steckt an. In allen europäischen Ländern wird der Patriotismus kriegerischer als je zuvor, weil er sich nunmehr auf kulturelle Ideale stützt. Krieg und Kriegsbegeisterung demokratisieren sich. Der Franzose Benda wählt ausgerechnet einen deutschen Historiker als Kronzeugen: Heinrich von Treitschke war davon überzeugt, Kriege würden nie mehr von der Erde verschwinden, nachdem sie einmal zu Kulturkriegen geworden waren.

Bendas Buch wurde 1927 publiziert - keine zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Verträge von Versailles standen am Ende dieses Krieges, der alle künftigen Kriege beenden sollte. Tatsächlich legte, mit seinem fatalen Friedensschluß, der "war to end all wars" den Keim zum Zweiten Weltkrieg. Treitschke hatte recht behalten: Aus "Kulturkriegen" würden immer wieder neue Kriege hervorgehen.

Am 4. Oktober 1914 veröffentlichten 93 bekannte deutsche Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller einen Aufruf mit der Überschrift "An die Kulturwelt!", in dem sie die Politik des Deutschen Reiches gegen Angriffe aus dem Ausland verteidigten. Der Aufruf war, in den Worten Fritz Sterns, ein Dokument autistischer Arroganz. Zu den wenigen, die ihre Unterschrift unter dieses Dokument verweigerten, gehörte Albert Einstein.

Im "Aufruf" war die Rede davon, daß Deutschland ein friedliebendes Land gewesen sei; der Krieg sei ihm aufgezwungen worden. Es handelte sich dabei nicht, verkündeten die 93, um einen Krieg gegen den deutschen Militarismus. Es war ein Krieg gegen die deutsche Kultur - den wiederum die Regierungen der Entente als einen Krieg für die Zivilisation zu rechtfertigen suchten. Die Auseinandersetzung zwischen westlicher "Zivilisation" und deutscher "Kultur" wurde um so heftiger geführt, weil zwischen Deutschland und seinen Nachbarn vielfältige geistige Allianzen bestanden.

Für die 93 Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller gehörten Kultur und Militär zusammen: "Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur schon längst vom Erdboden getilgt." Auch dieser Satz des Aufrufs wurde von Max Liebermann, Friedrich Naumann, Karl Vossler und Wilhelm Wundt unterschrieben. Mit den anderen Unterzeichnern des Manifests schworen sie, den Krieg als Angehörige eines "Kulturvolkes" zu führen; das Erbe Goethes, Beethovens und Kants war ihnen ebenso heilig wie jeder Fußbreit deutscher Erde. Einige von ihnen gingen noch weiter und behaupteten, nicht nur das Schicksal der deutschen, sondern der gesamten europäischen Kultur hänge vom Sieg des deutschen Militarismus ab.

Während des Ersten Weltkrieges veröffentlichte der Philosoph Max Scheler sein Buch "Die Ursachen des Deutschenhasses". Auch ihn hätte Benda als Zeugen seiner These nennen können. Der Erste Weltkrieg war kein Krieg der Heere, Dynastien und Regierungen mehr, schrieb Scheler - es war ein Krieg der Völker. Er wurde nicht von Stehenden Heeren geführt, sondern von innerlich demokratisierten Volksheeren. Auf allen Seiten vom Haß getrieben, wurde der Volkskrieg zum "furchtbarsten und unsittlichsten Krieg, den die Geschichte kennt". Um Haß zwischen den Völkern zu erzeugen, mußten die "kulturellen Berührungsflächen" zwischen ihnen groß sein.

Hier liegt der Unterschied zum "Krieg der Kulturen", von dem heute die Rede ist. Huntington hat den "Krieg" zwischen Kulturen prophezeit, die sich im Kern ihres Weltverständnisses fremd und deren Berührungsflächen klein sind. Der Erste Weltkrieg war ein Krieg zwischen Völkern, die sich nahe standen und deren kulturelle Berührungsflächen groß waren. Er war - im Selbstverständnis seiner Rechtfertigungs-Ideologen - ein "Kulturkrieg". Der "Große Krieg", wie ihn die Engländer und die Franzosen bis heute nennen, spielte sich weitgehend auf dem Boden des christlichen Abendlandes ab. Er wurde im Binnenraum der europäischen Zivilisation geführt. Und er kostete zehn Millionen Menschen das Leben.

Aus "Die Welt"
Artikel erschienen am 14.3.2006
http://www.welt.de/data/2006/03/14/859400.html?s=2
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