Spekulanten-Dämmerung
Verfasst: 10.03.2001 15:15
1998 begann die gefährlichste Krise seit 1929
Zwölf Feststellungen von Dr. Bruno Bandulet, Bad Kissingen
Was 1997 mit dem Zusammenbruch der südostasiatischen Währungen und Aktienmärkte begann und von den meisten Beobachtern als rein regionales Ereignis missverstanden wurde, hat 1998 in immer neuen und grösseren Wellen die ganze Welt erfasst.
Dies ist keine normale Korrektur der Aktienmärkte, wie die Neue Zürcher Zeitung glaubt, sondern der Einsturz eines Kartenhauses, das über viele Jahre hinweg in einer Orgie der Spekulation aufgetürmt wurde. Die zweite Oktoberhälfte brachte eine Atempause, aber ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Im Casino gehen die Lichter aus.
1
Das jüngste Kapitel der Crash-Serie betraf einen der 4'000 bis 5'000 Hedge-Fonds, die meist in Steueroasen domiziliert sind und keineswegs Absicherungsgeschäfte betreiben, wie die euphemistische Bezeichnung unterstellt, sondern mit grossem Hebel und entsprechendem Risiko an sämtlichen Finanz- und Rohstoffmärkten spekulieren. Solche Hedge-Fonds sind den kleinen Anlegern verschlossen, sie arbeiten mit dem Geld reicher Leute. Abgesehen von den schwarzen Schafen der Branche, konnten diese Fonds seit langem überdurchschnittliche Renditen erzielen. Denn dort werden die besten Köpfe der Finanzindustrie beschäftigt. Vieles, was sich in den vergangenen Jahren an den Märkten für Devisen, Aktien und Anleihen abgespielt hat, erklärt sich aus den Aktivitäten der Hedge-Fonds. Sie sorgten dafür, dass die Märkte einmal unter-, einmal überbewertet sind – denn nur nicht-effiziente Märkte mit «falschen» Preisen bieten ideale Gewinnchancen.
2
Da die Hedge-Fonds unreguliert sind und keiner Pflicht zur umfassenden Berichterstattung unterliegen, bleiben ihre Engagements und ihr Vorgehen undurchsichtig. Als der amerikanische Long Term Capital Management Fund (LTCM) im September am Rande des Abgrundes stand, erfuhr man zum ersten Mal, mit welch unglaublicher Hebelwirkung hier gearbeitet wird. Dass spekulative Fonds fünf- oder zehnmal soviel bewegen, wie sie Kapital haben, war schon immer üblich und kann als normal angesehen werden. Der LTCM aber kontrollierte im Sommer bei Eigenmitteln in Höhe von nur 2,2 Milliarden Dollar zeitweilig einen Wertpapierbestand von 125 Milliarden. Das war ein Hebel («leverage») von 56,8! Das ist ungefähr so, als ob Sie sich auf Ihr Haus im Wert von einer Million 56,8 Millionen leihen, um an die Börse zu gehen.
3
Erste Reaktion des staunenden Beobachters: Das ist deren Problem, jeder möge so spekulieren, wie er Lust hat. Dann stellt sich aber sofort die Frage: Wer hat Fonds wie den LTCM eigentlich finanziert? Antwort: die Banken. Dieselben Banken, die einem mittelständischen Betrieb bei ungenügender Sicherheit eine halbe Million verweigern, machten Abermilliarden locker, damit im grossen Casino des Weltfinanzsystems die Kugel rollte. Nicht nur das: die Grossbanken, darunter auch die grösste in der Schweiz, beteiligten sich auch noch selbst am LTCM – und nicht nur sie, sondern auch Notenbanken wie die italienische!
4
Seit der LTCM-Affäre ist das moralische Ansehen der Geschäftsbanken und der Notenbanken (jedenfalls eines Teils davon) lädiert. Die Kurse der Bankaktien sind meist um die Hälfte zusammengebrochen, teilweise bis auf ein Niveau, das zuletzt in den achtziger Jahren erreicht wurde. Tatsache ist: die Banken haben mit den Hedge-Fonds zusammengearbeitet, sie haben die Kredite vorgestreckt – niemand sonst. Während die Investitionen in die reale Wirtschaft vernachlässigt wurden (allein in den USA sind Tausende von Brücken baufällig), war immer genügend Geld da, um das grosse Rad zu drehen. Aber schliesslich haben die Trading Desks der Grossbanken, die seit Jahren in grossem Massstab auf eigene Rechnung spekulieren, im Prinzip nichts anderes getan als die Hedge-Fonds. Es war die Zeit einer grotesken Derivaten-Schwemme – künstlicher Finanzprodukte, die natürlich auch den kleinen Anlegern aufgeschwatzt wurden. Man werfe nur einen Blick in die Anzeigenseiten der Wirtschaftspresse.
5
Das System ist korrumpiert. Es ist ein System der Finanzkapitalisten und Oligarchen, die sich gegenseitig in die Tasche wirtschaften. Die Gewinne fliessen auf das eigene Konto, die Verluste werden notfalls sozialisiert, mit Hilfe der Notenbanken abgefangen oder auch dem Steuerzahler aufgebürdet. An dieser offenen Verschwörung zu Lasten des Gemeinwohls waren viele beteiligt: One-World-Organisationen wie der Internationale Währungsfonds, der in Asien völlig versagt und immer nur die falschen Rezepte verschrieben hat – er gehört abgeschafft; die Banken, die den Entwicklungsländern überflüssige und fatale Kredite aufgedrängt haben; und die Zentralbanken, die dem Treiben nicht nur zusahen, sondern sich in den letzten Jahren sogar einbildeten, sie müssten nun auch ihre Profite maximieren anstatt ihre Währungsreserven sicher und seriös und mit Blick auf einen immer möglichen Ernstfall zu verwalten. Nur vor dem Hintergrund dieser perversen Philosophie war es denkbar, dass so viele Notenbanken ihr Gold zu Ausverkaufspreisen verschleuderten oder es ausliehen – ein verantwortungsloses Verhalten. Als der LTCM dann am 23. September von einem Konsortium amerikanischer und europäischer Banken gerettet wurde, stand der amerikanische Notenbankchef Allan Greenspan Pate. Da fragt man sich, wessen Interessen er und seine Bank eigentlich vertreten.
6
Möglich wurde der wahnsinnige Aufbau dieser internationalen Kreditpyramide nur durch die Lösung vom Gold im Sommer 1971, als Präsident Nixon das sogenannte Goldfenster schloss. Bis dahin waren die Devisenreserven der Notenbanken jederzeit in Gold einlösbar. Die Notenbanken konnten Dollars präsentieren und dafür Gold verlangen. Seit 1971 hat das Papiergeld seinen Bezug zu einem realen Wert verloren. Es wurde beliebig vermehrbar. Die Spieler konnten sich reich rechnen. Die Finanzblase wurde grösser und grösser, jetzt wird sie kleiner und kleiner. Was in den letzten Wochen und Monaten passierte, war genaugenommen noch keine «Flucht in die Qualität», sondern eine beginnende, kopflose Absetzbewegung aus allen möglichen Finanzanlagen. Wer in diesem Sommer aus den Aktien in Anleihen wechselte, floh nicht in «Qualität», sondern in Papiere, die nur auf kurze oder mittlere Sicht dafür gut sind, Geld zu parken, deren Wert jedoch im Zuge der unvermeidlich kommenden Reflationierung zerstört werden wird. Eine Flucht ins Gold, das wäre eine Flucht in die Qualität gewesen. Aber dazu kam es noch nicht, durfte es nicht kommen.
7
Was wir derzeit erleben, ist eine Kreditkontraktion, eine Flucht in das Bargeld. Das hat konkret zur Folge, dass auch gute Firmen in Japan und anderswo von ihrer Bank keine Kredite mehr bekommen und deswegen nicht investieren können. Dieser Effekt – er hat Europa noch kaum erreicht – ist dabei, sich auf die gesamte Weltwirtschaft auszubreiten. Greenspan versuchte, mit der jüngsten Diskontsatzsenkung gegenzusteuern. Das Problem ist nur: um das Zusammenfallen der Finanzblase aufzuhalten, sind im Notfall immer grössere Gelder notwendig. Wenn beispielsweise auf der Basis einer Geldmenge von tausend Milliarden zehnmal soviel an Krediten mobilisiert wurde und wenn dieser Hebel von zehn auf fünf reduziert wird, kann eine Notenbank eine solche Kreditkontraktion kaum ausgleichen. Sie müsste dafür Tag und Nacht Geld drucken. Auch Zinssenkungen als solche können dann nicht verhindern, dass das Soufflé in sich zusammenfällt.
Dass steigende Zinsen immer schlecht für die Börse sind und fallende immer gut, ist eine Legende. Auch der Jahrhundertcrash, der im Herbst 1929 begann, wurde von der amerikanischen Federal Reserve mit ständigen Zinssenkungen begleitet. Die Fed machte das Geld billiger, um das Schlimmste zu verhindern. Es war vergeblich. Innerhalb von zwei Jahren sank der US-Diskontsatz von 6% auf 1,5% – aber die Aktien fielen und fielen. Nicht anders war es in den vergangenen Jahren in Japan. Umgekehrt war die Börsenhausse 1924 bis 1929 an der Wall Street von einer Verdoppelung des Diskontsatzes begleitet.
Wie gross die notwendige Dosis an Geldspritzen am Ende werden kann, zeigt der Fall Japan: Im Oktober beschloss das Unterhaus, 60 Billionen Yen (620 Milliarden Franken) in das marode Bankensystem zu pumpen. Japan belastet sich mit einer drückenden Staatsverschuldung, die nach menschlichem Ermessen nur durch eine spätere Inflation erträglich zu machen ist. Besonders wichtig: auch am Beginn der katastrophalen Entwicklung in Japan stand keineswegs ein Versagen der realen Wirtschaft, sondern die Überspekulation am Aktien- und Immobilienmarkt. Überall und immer wieder wackelt der Schwanz (= Finanzkapitalismus) mit dem Hund (= reale Wirtschaft).
8
Das Tragische an dieser Entwicklung: sie war unnötig. Selbst der Kollaps in Südostasien, der viele Millionen Menschen in bitterste Armut gestürzt hat, war überflüssig. Wie die Financial Times am 21. September berichtete, beliefen sich in den neunziger Jahren die Kapitalzuflüsse in die Entwicklungsländer auf nicht mehr als 10% der inländischen Investitionen. Und davon ging die Hälfte in die offiziellen Währungsreserven. Mit anderen Worten: Diese Nationen haben sich ruiniert, weil sie Kredite in Fremdwährungen aufnahmen, die sie im Grunde nicht brauchten und die sie wegen des Kollapses ihrer eigenen Währung 1997/98 nicht mehr bedienen konnten – und das alles wegen 5% ihrer Gesamtinvestitionen und einer zusätzlichen Beschleunigung des Wirtschaftswachstums, für die jetzt ein zu hoher Preis errichtet werden muss. Richtiger wäre es gewesen, sich langsamer, solider und aus eigener Kraft zu entwickeln. Aber dann wäre der Finanzindustrie ein blendendes Geschäft entgangen.
9
Die Entwicklungsländer (gemeint sind die sogenannten Emerging Markets) fanden sich plötzlich in der Situation von Banken, von denen alle ihr Geld abheben wollen. Der Fluch des Systems ist Kurzfristigkeit und Kreditexzess. Nicht die Globalisierung als solche! Auch im 19. Jahrhundert – zur Zeit des Goldstandards – war die Welt in dem Sinne globalisiert, dass das Kapital frei über die Grenze fliessen konnte. Nur vollzog sich dies damals langfristig und ohne die – am Beispiel von LTCM erklärte – fatale Hebelwirkung.
Wie Wirtschaftshistoriker herausfanden, waren es nicht mehr als 5‘000 britische und 20‘000 wohlhabende kontinentaleuropäische Familien, die ihr Geld auf lange Sicht in Aktien und Anleihen der Entwicklungsländer steckten und damit beispielsweise Eisenbahnen in Amerika und Goldminen in Südafrika finanzierten. Ab und zu ging eine Mine oder ein Schuldner pleite, aber nie auf Kosten der Steuerzahler! Das damalige System hatte auch seine Krisen und Crashs, aber sie waren kurz, das System korrigierte sich von alleine. Und der Goldstandard garantierte, dass Geld und Kredit nicht beliebig vermehrt werden konnten. Auch in unserer Zeit müsste es profitabel sein, in Südamerika und Südostasien zu investieren – wenn der moderne Finanzkapitalismus, der im Grunde mit der Marktwirtschaft gebrochen hat, das System nicht missbraucht und denatuiert hätte.
10
Die Krise ist nicht ausgestanden, sie wird wieder und wieder an anderen Stellen ausbrechen. Brasilien erlebt seit Wochen hohe Kapitalabflüsse. Und selbst Argentinien, dessen Währung fest an den Dollar gekoppelt ist, wird sich wohl nicht halten lassen. Auf der Tagung von Weltbank und IWF im Oktober konnten sich die Argentinier zwar neue Kredite in Höhe von 5,7 Milliarden Dollar sichern. Aber diese reichen gerade aus, um den Schuldendienst bis zum ersten Quartal 1999 leisten zu können. Und was passiert dann? Dass Argentinien inzwischen den Rest seiner Goldreserven verschleudert hat, war entweder ein Akt der Dummheit oder der Verzweiflung. Es wäre besser gewesen, die Südamerikaner und die Asiaten hätten sich nie in die Abhängigkeit der internationalen Banken und Finanzorganisationen begeben und hätten sich – wie im 19. Jahrhundert – statt dessen langfristiges privates Kapital für rentable und vernünftige Projekte gesichert.
11
In den Stürmen, die 1998 durch das Weltfinanzsystem fegten, stand Europa wie eine Festung – abgesehen von den Aktienmärkten, die hierzulande sogar schneller als in New York fielen, weil die Akteure Bargeld brauchten. (In einer Liquiditätskrise wird eben alles verkauft, ungeachtet der Qualität. Sie hätten auch Gold verkauft, wenn sie welches gehabt hätten.) Die Politiker reden sich nun ein, die relative Ruhe in Europa sei dem wunderbaren Projekt Euro zu verdanken. Man hat offenbar bereits vergessen, dass die Bundesbank in ihrem berühmten Konvergenz-Bericht klipp und klar feststellte, dass die meisten Euro-Teilnehmer die Voraussetzungen für das Währungsexperiment nicht erfüllen konnten. Wenn es schiefgeht, kann die Bundesbank nachher mit Recht darauf verweisen, dass sie gewarnt und nie ihr Placet gegeben hat. Sie hat sich lediglich der politischen Entscheidung gebeugt. Wahr ist nach wie vor, dass der Maastrichter Vertrag schwerste Mängel aufweist, dass der Euro noch völlig unerprobt ist und dass Europa nur deswegen bisher von der Krise halbwegs verschont blieb, weil die Verantwortung für die Stabilität des Finanzsystems in den bewährten Händen der Deutschen Bundesbank lag, an der sich die Nachbarn orientierten. Im Januar 1999 muss diese Bundesbank die Verantwortung abgeben. Aber niemand weiss bisher, an wen. Die Aufgabenteilung zwischen Europäischer Zentralbank und nationalen Notenbanken ist keineswegs eindeutig geklärt: Aufgrund der dubiosen Konstruktion des Maastrichter Vertrages kann die EZB in Krisenzeiten nur schwer als «lender of last resort» tätig werden, und dazu wird die unqualifizierte Einflussnahme sozialistischer Politiker in Bonn und Paris kommen. Die Zinskonvergenz in der EU, durch die italienische Staatsanleihen wunderbarerweise fast auf den Wert deutscher Bundesanleihen angehoben wurden, war pikanterweise den Spekulationsgeschäften der Hedge-Fonds zu verdanken, die damit der Politik einen Gefallen taten. So liess sich die heile Euro-Welt vorgaukeln. Den Verantwortlichen ist nur zu raten, spätestens im Dezember die Lira und einige andere südeuropäische Währungen ein weiteres Mal abzuwerten.
12
Stellen Sie sich darauf ein, dass das Währungschaos noch einige Jahre andauert, dass auch der Euro unter Beschuss gerät, dass der Dollar dann wieder gefragt sein könnte, dass sich die Aktienbaisse nach dem Ende der derzeitigen Atempause fortsetzt, dass der globale Finanzkapitalismus 1998 den Zenit seiner Macht überschritten hat, dass die Devisen- und Kapitalmärkte wieder mehr kontrolliert und reguliert werden, dass auch in den Büchern der europäischen Banken weitere faule Kredite versteckt sind, dass sich die russische Krise verschärft und ihre Schatten auf ganz Europa wirft, dass im schlimmsten Fall die Banken für ein paar Tage zumachen müssen – und dass sich am Ende der Krise neue langfristige Anlagemöglichkeiten bieten, nicht zuletzt in Japan und den Entwicklungsländern.
Vergessen Sie alles, was in den Zeitungen steht, auch über Gold. Das Problem des Goldes ist weniger ein Überangebot, sondern eine manipulativ zurückgestaute Nachfrage. Es wird immer auf die offiziellen Goldreserven verwiesen, aber diese sind winzig im Vergleich zum internationalen Finanzmarkt. Allein ein einziger Hedge-Fonds wie LTCM hätte die gesamten europäischen Goldreserven übernehmen können! Statt dessen haben die Fonds und die Grossbanken (im stillschweigenden Einvernehmen mit den Notenbanken!) Gold gedrückt, indem sie wie im Yen eine gigantische Short-Position aufbauten. Die Verantwortlichen fürchten, dass Gold steigen könnte, denn erst eine Goldhausse wäre das offensichtliche Indiz dafür, dass das Papiergeldsystem gescheitert ist. Gold stellt keine Zahlungsverpflichtung dar, steht für kein Kreditverhältnis. Es geht nie pleite, trägt kein Länderrisiko. Jetzt, 1998, schlüge die Stunde des Goldes – würde der Zeiger nicht angehalten.
Dr. Bruno Bandulet
Zwölf Feststellungen von Dr. Bruno Bandulet, Bad Kissingen
Was 1997 mit dem Zusammenbruch der südostasiatischen Währungen und Aktienmärkte begann und von den meisten Beobachtern als rein regionales Ereignis missverstanden wurde, hat 1998 in immer neuen und grösseren Wellen die ganze Welt erfasst.
Dies ist keine normale Korrektur der Aktienmärkte, wie die Neue Zürcher Zeitung glaubt, sondern der Einsturz eines Kartenhauses, das über viele Jahre hinweg in einer Orgie der Spekulation aufgetürmt wurde. Die zweite Oktoberhälfte brachte eine Atempause, aber ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Im Casino gehen die Lichter aus.
1
Das jüngste Kapitel der Crash-Serie betraf einen der 4'000 bis 5'000 Hedge-Fonds, die meist in Steueroasen domiziliert sind und keineswegs Absicherungsgeschäfte betreiben, wie die euphemistische Bezeichnung unterstellt, sondern mit grossem Hebel und entsprechendem Risiko an sämtlichen Finanz- und Rohstoffmärkten spekulieren. Solche Hedge-Fonds sind den kleinen Anlegern verschlossen, sie arbeiten mit dem Geld reicher Leute. Abgesehen von den schwarzen Schafen der Branche, konnten diese Fonds seit langem überdurchschnittliche Renditen erzielen. Denn dort werden die besten Köpfe der Finanzindustrie beschäftigt. Vieles, was sich in den vergangenen Jahren an den Märkten für Devisen, Aktien und Anleihen abgespielt hat, erklärt sich aus den Aktivitäten der Hedge-Fonds. Sie sorgten dafür, dass die Märkte einmal unter-, einmal überbewertet sind – denn nur nicht-effiziente Märkte mit «falschen» Preisen bieten ideale Gewinnchancen.
2
Da die Hedge-Fonds unreguliert sind und keiner Pflicht zur umfassenden Berichterstattung unterliegen, bleiben ihre Engagements und ihr Vorgehen undurchsichtig. Als der amerikanische Long Term Capital Management Fund (LTCM) im September am Rande des Abgrundes stand, erfuhr man zum ersten Mal, mit welch unglaublicher Hebelwirkung hier gearbeitet wird. Dass spekulative Fonds fünf- oder zehnmal soviel bewegen, wie sie Kapital haben, war schon immer üblich und kann als normal angesehen werden. Der LTCM aber kontrollierte im Sommer bei Eigenmitteln in Höhe von nur 2,2 Milliarden Dollar zeitweilig einen Wertpapierbestand von 125 Milliarden. Das war ein Hebel («leverage») von 56,8! Das ist ungefähr so, als ob Sie sich auf Ihr Haus im Wert von einer Million 56,8 Millionen leihen, um an die Börse zu gehen.
3
Erste Reaktion des staunenden Beobachters: Das ist deren Problem, jeder möge so spekulieren, wie er Lust hat. Dann stellt sich aber sofort die Frage: Wer hat Fonds wie den LTCM eigentlich finanziert? Antwort: die Banken. Dieselben Banken, die einem mittelständischen Betrieb bei ungenügender Sicherheit eine halbe Million verweigern, machten Abermilliarden locker, damit im grossen Casino des Weltfinanzsystems die Kugel rollte. Nicht nur das: die Grossbanken, darunter auch die grösste in der Schweiz, beteiligten sich auch noch selbst am LTCM – und nicht nur sie, sondern auch Notenbanken wie die italienische!
4
Seit der LTCM-Affäre ist das moralische Ansehen der Geschäftsbanken und der Notenbanken (jedenfalls eines Teils davon) lädiert. Die Kurse der Bankaktien sind meist um die Hälfte zusammengebrochen, teilweise bis auf ein Niveau, das zuletzt in den achtziger Jahren erreicht wurde. Tatsache ist: die Banken haben mit den Hedge-Fonds zusammengearbeitet, sie haben die Kredite vorgestreckt – niemand sonst. Während die Investitionen in die reale Wirtschaft vernachlässigt wurden (allein in den USA sind Tausende von Brücken baufällig), war immer genügend Geld da, um das grosse Rad zu drehen. Aber schliesslich haben die Trading Desks der Grossbanken, die seit Jahren in grossem Massstab auf eigene Rechnung spekulieren, im Prinzip nichts anderes getan als die Hedge-Fonds. Es war die Zeit einer grotesken Derivaten-Schwemme – künstlicher Finanzprodukte, die natürlich auch den kleinen Anlegern aufgeschwatzt wurden. Man werfe nur einen Blick in die Anzeigenseiten der Wirtschaftspresse.
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Das System ist korrumpiert. Es ist ein System der Finanzkapitalisten und Oligarchen, die sich gegenseitig in die Tasche wirtschaften. Die Gewinne fliessen auf das eigene Konto, die Verluste werden notfalls sozialisiert, mit Hilfe der Notenbanken abgefangen oder auch dem Steuerzahler aufgebürdet. An dieser offenen Verschwörung zu Lasten des Gemeinwohls waren viele beteiligt: One-World-Organisationen wie der Internationale Währungsfonds, der in Asien völlig versagt und immer nur die falschen Rezepte verschrieben hat – er gehört abgeschafft; die Banken, die den Entwicklungsländern überflüssige und fatale Kredite aufgedrängt haben; und die Zentralbanken, die dem Treiben nicht nur zusahen, sondern sich in den letzten Jahren sogar einbildeten, sie müssten nun auch ihre Profite maximieren anstatt ihre Währungsreserven sicher und seriös und mit Blick auf einen immer möglichen Ernstfall zu verwalten. Nur vor dem Hintergrund dieser perversen Philosophie war es denkbar, dass so viele Notenbanken ihr Gold zu Ausverkaufspreisen verschleuderten oder es ausliehen – ein verantwortungsloses Verhalten. Als der LTCM dann am 23. September von einem Konsortium amerikanischer und europäischer Banken gerettet wurde, stand der amerikanische Notenbankchef Allan Greenspan Pate. Da fragt man sich, wessen Interessen er und seine Bank eigentlich vertreten.
6
Möglich wurde der wahnsinnige Aufbau dieser internationalen Kreditpyramide nur durch die Lösung vom Gold im Sommer 1971, als Präsident Nixon das sogenannte Goldfenster schloss. Bis dahin waren die Devisenreserven der Notenbanken jederzeit in Gold einlösbar. Die Notenbanken konnten Dollars präsentieren und dafür Gold verlangen. Seit 1971 hat das Papiergeld seinen Bezug zu einem realen Wert verloren. Es wurde beliebig vermehrbar. Die Spieler konnten sich reich rechnen. Die Finanzblase wurde grösser und grösser, jetzt wird sie kleiner und kleiner. Was in den letzten Wochen und Monaten passierte, war genaugenommen noch keine «Flucht in die Qualität», sondern eine beginnende, kopflose Absetzbewegung aus allen möglichen Finanzanlagen. Wer in diesem Sommer aus den Aktien in Anleihen wechselte, floh nicht in «Qualität», sondern in Papiere, die nur auf kurze oder mittlere Sicht dafür gut sind, Geld zu parken, deren Wert jedoch im Zuge der unvermeidlich kommenden Reflationierung zerstört werden wird. Eine Flucht ins Gold, das wäre eine Flucht in die Qualität gewesen. Aber dazu kam es noch nicht, durfte es nicht kommen.
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Was wir derzeit erleben, ist eine Kreditkontraktion, eine Flucht in das Bargeld. Das hat konkret zur Folge, dass auch gute Firmen in Japan und anderswo von ihrer Bank keine Kredite mehr bekommen und deswegen nicht investieren können. Dieser Effekt – er hat Europa noch kaum erreicht – ist dabei, sich auf die gesamte Weltwirtschaft auszubreiten. Greenspan versuchte, mit der jüngsten Diskontsatzsenkung gegenzusteuern. Das Problem ist nur: um das Zusammenfallen der Finanzblase aufzuhalten, sind im Notfall immer grössere Gelder notwendig. Wenn beispielsweise auf der Basis einer Geldmenge von tausend Milliarden zehnmal soviel an Krediten mobilisiert wurde und wenn dieser Hebel von zehn auf fünf reduziert wird, kann eine Notenbank eine solche Kreditkontraktion kaum ausgleichen. Sie müsste dafür Tag und Nacht Geld drucken. Auch Zinssenkungen als solche können dann nicht verhindern, dass das Soufflé in sich zusammenfällt.
Dass steigende Zinsen immer schlecht für die Börse sind und fallende immer gut, ist eine Legende. Auch der Jahrhundertcrash, der im Herbst 1929 begann, wurde von der amerikanischen Federal Reserve mit ständigen Zinssenkungen begleitet. Die Fed machte das Geld billiger, um das Schlimmste zu verhindern. Es war vergeblich. Innerhalb von zwei Jahren sank der US-Diskontsatz von 6% auf 1,5% – aber die Aktien fielen und fielen. Nicht anders war es in den vergangenen Jahren in Japan. Umgekehrt war die Börsenhausse 1924 bis 1929 an der Wall Street von einer Verdoppelung des Diskontsatzes begleitet.
Wie gross die notwendige Dosis an Geldspritzen am Ende werden kann, zeigt der Fall Japan: Im Oktober beschloss das Unterhaus, 60 Billionen Yen (620 Milliarden Franken) in das marode Bankensystem zu pumpen. Japan belastet sich mit einer drückenden Staatsverschuldung, die nach menschlichem Ermessen nur durch eine spätere Inflation erträglich zu machen ist. Besonders wichtig: auch am Beginn der katastrophalen Entwicklung in Japan stand keineswegs ein Versagen der realen Wirtschaft, sondern die Überspekulation am Aktien- und Immobilienmarkt. Überall und immer wieder wackelt der Schwanz (= Finanzkapitalismus) mit dem Hund (= reale Wirtschaft).
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Das Tragische an dieser Entwicklung: sie war unnötig. Selbst der Kollaps in Südostasien, der viele Millionen Menschen in bitterste Armut gestürzt hat, war überflüssig. Wie die Financial Times am 21. September berichtete, beliefen sich in den neunziger Jahren die Kapitalzuflüsse in die Entwicklungsländer auf nicht mehr als 10% der inländischen Investitionen. Und davon ging die Hälfte in die offiziellen Währungsreserven. Mit anderen Worten: Diese Nationen haben sich ruiniert, weil sie Kredite in Fremdwährungen aufnahmen, die sie im Grunde nicht brauchten und die sie wegen des Kollapses ihrer eigenen Währung 1997/98 nicht mehr bedienen konnten – und das alles wegen 5% ihrer Gesamtinvestitionen und einer zusätzlichen Beschleunigung des Wirtschaftswachstums, für die jetzt ein zu hoher Preis errichtet werden muss. Richtiger wäre es gewesen, sich langsamer, solider und aus eigener Kraft zu entwickeln. Aber dann wäre der Finanzindustrie ein blendendes Geschäft entgangen.
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Die Entwicklungsländer (gemeint sind die sogenannten Emerging Markets) fanden sich plötzlich in der Situation von Banken, von denen alle ihr Geld abheben wollen. Der Fluch des Systems ist Kurzfristigkeit und Kreditexzess. Nicht die Globalisierung als solche! Auch im 19. Jahrhundert – zur Zeit des Goldstandards – war die Welt in dem Sinne globalisiert, dass das Kapital frei über die Grenze fliessen konnte. Nur vollzog sich dies damals langfristig und ohne die – am Beispiel von LTCM erklärte – fatale Hebelwirkung.
Wie Wirtschaftshistoriker herausfanden, waren es nicht mehr als 5‘000 britische und 20‘000 wohlhabende kontinentaleuropäische Familien, die ihr Geld auf lange Sicht in Aktien und Anleihen der Entwicklungsländer steckten und damit beispielsweise Eisenbahnen in Amerika und Goldminen in Südafrika finanzierten. Ab und zu ging eine Mine oder ein Schuldner pleite, aber nie auf Kosten der Steuerzahler! Das damalige System hatte auch seine Krisen und Crashs, aber sie waren kurz, das System korrigierte sich von alleine. Und der Goldstandard garantierte, dass Geld und Kredit nicht beliebig vermehrt werden konnten. Auch in unserer Zeit müsste es profitabel sein, in Südamerika und Südostasien zu investieren – wenn der moderne Finanzkapitalismus, der im Grunde mit der Marktwirtschaft gebrochen hat, das System nicht missbraucht und denatuiert hätte.
10
Die Krise ist nicht ausgestanden, sie wird wieder und wieder an anderen Stellen ausbrechen. Brasilien erlebt seit Wochen hohe Kapitalabflüsse. Und selbst Argentinien, dessen Währung fest an den Dollar gekoppelt ist, wird sich wohl nicht halten lassen. Auf der Tagung von Weltbank und IWF im Oktober konnten sich die Argentinier zwar neue Kredite in Höhe von 5,7 Milliarden Dollar sichern. Aber diese reichen gerade aus, um den Schuldendienst bis zum ersten Quartal 1999 leisten zu können. Und was passiert dann? Dass Argentinien inzwischen den Rest seiner Goldreserven verschleudert hat, war entweder ein Akt der Dummheit oder der Verzweiflung. Es wäre besser gewesen, die Südamerikaner und die Asiaten hätten sich nie in die Abhängigkeit der internationalen Banken und Finanzorganisationen begeben und hätten sich – wie im 19. Jahrhundert – statt dessen langfristiges privates Kapital für rentable und vernünftige Projekte gesichert.
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In den Stürmen, die 1998 durch das Weltfinanzsystem fegten, stand Europa wie eine Festung – abgesehen von den Aktienmärkten, die hierzulande sogar schneller als in New York fielen, weil die Akteure Bargeld brauchten. (In einer Liquiditätskrise wird eben alles verkauft, ungeachtet der Qualität. Sie hätten auch Gold verkauft, wenn sie welches gehabt hätten.) Die Politiker reden sich nun ein, die relative Ruhe in Europa sei dem wunderbaren Projekt Euro zu verdanken. Man hat offenbar bereits vergessen, dass die Bundesbank in ihrem berühmten Konvergenz-Bericht klipp und klar feststellte, dass die meisten Euro-Teilnehmer die Voraussetzungen für das Währungsexperiment nicht erfüllen konnten. Wenn es schiefgeht, kann die Bundesbank nachher mit Recht darauf verweisen, dass sie gewarnt und nie ihr Placet gegeben hat. Sie hat sich lediglich der politischen Entscheidung gebeugt. Wahr ist nach wie vor, dass der Maastrichter Vertrag schwerste Mängel aufweist, dass der Euro noch völlig unerprobt ist und dass Europa nur deswegen bisher von der Krise halbwegs verschont blieb, weil die Verantwortung für die Stabilität des Finanzsystems in den bewährten Händen der Deutschen Bundesbank lag, an der sich die Nachbarn orientierten. Im Januar 1999 muss diese Bundesbank die Verantwortung abgeben. Aber niemand weiss bisher, an wen. Die Aufgabenteilung zwischen Europäischer Zentralbank und nationalen Notenbanken ist keineswegs eindeutig geklärt: Aufgrund der dubiosen Konstruktion des Maastrichter Vertrages kann die EZB in Krisenzeiten nur schwer als «lender of last resort» tätig werden, und dazu wird die unqualifizierte Einflussnahme sozialistischer Politiker in Bonn und Paris kommen. Die Zinskonvergenz in der EU, durch die italienische Staatsanleihen wunderbarerweise fast auf den Wert deutscher Bundesanleihen angehoben wurden, war pikanterweise den Spekulationsgeschäften der Hedge-Fonds zu verdanken, die damit der Politik einen Gefallen taten. So liess sich die heile Euro-Welt vorgaukeln. Den Verantwortlichen ist nur zu raten, spätestens im Dezember die Lira und einige andere südeuropäische Währungen ein weiteres Mal abzuwerten.
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Stellen Sie sich darauf ein, dass das Währungschaos noch einige Jahre andauert, dass auch der Euro unter Beschuss gerät, dass der Dollar dann wieder gefragt sein könnte, dass sich die Aktienbaisse nach dem Ende der derzeitigen Atempause fortsetzt, dass der globale Finanzkapitalismus 1998 den Zenit seiner Macht überschritten hat, dass die Devisen- und Kapitalmärkte wieder mehr kontrolliert und reguliert werden, dass auch in den Büchern der europäischen Banken weitere faule Kredite versteckt sind, dass sich die russische Krise verschärft und ihre Schatten auf ganz Europa wirft, dass im schlimmsten Fall die Banken für ein paar Tage zumachen müssen – und dass sich am Ende der Krise neue langfristige Anlagemöglichkeiten bieten, nicht zuletzt in Japan und den Entwicklungsländern.
Vergessen Sie alles, was in den Zeitungen steht, auch über Gold. Das Problem des Goldes ist weniger ein Überangebot, sondern eine manipulativ zurückgestaute Nachfrage. Es wird immer auf die offiziellen Goldreserven verwiesen, aber diese sind winzig im Vergleich zum internationalen Finanzmarkt. Allein ein einziger Hedge-Fonds wie LTCM hätte die gesamten europäischen Goldreserven übernehmen können! Statt dessen haben die Fonds und die Grossbanken (im stillschweigenden Einvernehmen mit den Notenbanken!) Gold gedrückt, indem sie wie im Yen eine gigantische Short-Position aufbauten. Die Verantwortlichen fürchten, dass Gold steigen könnte, denn erst eine Goldhausse wäre das offensichtliche Indiz dafür, dass das Papiergeldsystem gescheitert ist. Gold stellt keine Zahlungsverpflichtung dar, steht für kein Kreditverhältnis. Es geht nie pleite, trägt kein Länderrisiko. Jetzt, 1998, schlüge die Stunde des Goldes – würde der Zeiger nicht angehalten.
Dr. Bruno Bandulet