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Epochenwende

Verfasst: 19.12.2005 13:06
von Alexandra
"Epochenwende - Gewinnt der Westen die Zukunft?"
von Prof. Meinhard Miegel, 19.12.05

Die Völker des Westens, namentlich Westeuropäer, Nordamerikaner und Japaner haben bei der Mehrung ihres materiellen Wohlstands im Vergleich zur übrigen Menschheit einen weiten Vorsprung erlangt. Wenn ihnen heute pro Kopf das rund 17fache dessen zur Verfügung steht, was andere Völker haben, dann ernten sie die Früchte einer Entwicklung, die vor Jahrhunderten begann, jetzt aber ihren Höhepunkt überschritten hat. Andere Völker sind dabei, den Vorsprung aufzuholen. Sie werden schneller, während der Westen langsamer wird. Deshalb ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Ausreißer vom Hauptfeld wieder eingefangen sein werden.

Etwas anderes zu erwarten ist völlig unhistorisch und illusionär. Jedes Volk, jede Kultur, hat immer nur auf Zeit eine Spitzenposition besetzt und dann den Stab weitergegeben oder weitergeben müssen. Im Westen mehren sich die Zeichen, dass der Zeitpunkt für diesen Stabwechsel nahe gekommen ist.

Das ist keine Untergangsvision, sondern die Aufforderung, sich bestimmter Veränderungen bewusst zu werden, auf sie einzugehen und ihre Chancen zu nutzen. Noch sind wir von alledem hier in Deutschland, aber auch in den übrigen Ländern des Westens weit entfernt. Der vergangene Wahlkampf zeigte das. In gewisser Weise war er antiquiert. Er setzt eine Welt und eine Gesellschaft voraus, die untergegangen sind. Ihm fehlte die reale Fundierung. Er war weitgehend nur noch Wortgeklingele.

Die Menschen spüren das und sind entsprechend verunsichert. Zu lange schon haben sie immer die gleichen Versprechen gehört: Wachstum, Wohlstand, Erwerbsarbeit, soziale Gerechtigkeit. Doch bei der Verfolgung dieser Ziele sind die Völker des Westens seit Jahrzehnten kaum noch voran gekommen. Von einigen technischen Errungenschaften abgesehen, befinden sie sich - nüchtern betrachtet - seit mindestens einer Generation in einem Zustand hektisch-lärmenden Stillstands.

Hierzu tragen zahlreiche Faktoren bei. Dem Westen fällt es immer schwerer, dem Druck der übrigen Welt standzuhalten. Rund 80 Prozent der Weltrüstungsausgaben, das sind etwa 800 Milliarden US-Dollar, werden heute vom Westen getätigt. Hinzu kommen schätzungsweise 1,5 Billionen US-Dollar für die weltweite Bekämpfung des Terrorismus. Weitere riesige Milliardenbeträge kosten der Drogenkrieg und die Verteidigung von Eigentumsrechten, insbesondere geistigen Eigentums. Für das alles wenden die Länder des Westens gegenwärtig ein Siebentel, vielleicht aber auch schon ein Sechstel dessen auf, was sie erwirtschaften.

Noch bedeutsamer ist allerdings die Tatsache, dass immer mehr Volkswirtschaften dem Westen auf dessen ureigenstem Feld Paroli bieten, dem Feld der Wirtschaft. Jeden Tag kommen annähernd 200.000 Erwerbspersonen neu auf den Weltarbeitsmarkt, von denen ein stetig wachsender Anteil genauso qualifiziert und mindestens ebenso motiviert ist wie die westlichen Erwerbsbevölkerungen qualifiziert und motiviert sind. Im Gegensatz zu diesen sind sie jedoch noch immer äußerst genügsam.

Dies ist für den Westen eine Herausforderung, auf die er noch keine Antwort gefunden hat. Denn einerseits profitiert er von dieser Genügsamkeit. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die Läden im Westen mit billigen Waren überquellen. Andererseits zieht diese Genügsamkeit die westlichen Erwerbsbevölkerungen in einen Sog. Sie können sich noch so heftig sträuben. Über kurz oder lang findet eine globale Nivellierung der Arbeitskosten statt und wer glaubt, dass deren Niveau dem derzeitigen des Westens entsprechen werde, ist ein Fantast. Oder genauer: Bei gleicher Produktivität werden künftig weltweit ähnliche Einkommen erzielt werden. Für den Westen ist das keine gute Nachricht. Dann werden nämlich seine Erwerbsbevölkerungen feststellen müssen, dass sie vielen anderen Völkern nicht mehr turmhoch überlegen sind und folglich ihr derzeit noch turmhoch höherer Lebensstandard auf tönernen Füßen steht.

Die Anstrengungen, dies alles zu verdrängen, sind immens und noch nähren vor allem Politiker die Hoffnung, jene historisch einzigartigen Vorsprünge könnten wieder hergestellt oder die noch bestehenden zumindest gehalten werden. Sie übersehen dabei, wie nachhaltig die Völker des Westens durch die generationenlange monomane Verfolgung ökonomischer Ziele zerrüttet worden sind. Dieses Verhalten war Voraussetzung für die historisch einzigartige Mehrung materiellen Wohlstands. Hätten sich die Völker des Westens anders verhalten, hätten sie diesen materiellen Überfluss nie erreichen können. Aber es war und ist kurzsichtig und naiv anzunehmen, dass eine derartige Fokussierung auf das Ökonomische nicht Defizite in anderen Bereichen bewirkt.

Am schwersten betroffen ist die Gesellschaft selbst. Ihr innerer Zusammenhalt ist empfindlich geschwächt. Das gilt im Verhältnis von Bevölkerung und politischer Führung, gesellschaftlichen Gruppen untereinander, Arbeitnehmern und Arbeitgebern, aber auch im Verhältnis von Männern und Frauen, Eltern und Kindern. Die ausgeprägte Kinderarmut vieler westlicher Länder hat hier ihre tieferen Wurzeln. Für Kinder ist nur wenig Raum in einer ökonomisch maximierenden Gesellschaft. Ihr fehlt es weder an Geld noch vorrangig an Dingen wie der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Was ihr fehlt, ist die mentale Bereitschaft, sich auf Kinder einzulassen.

Zerrüttet wurde die Gesellschaft aber auch durch die weithin verfehlte Verwendung ihres materiellen Überflusses. Sich krank essende und trinkende Menschen sind keine Ausnahme mehr, sondern Massenerscheinungen. Wohlstandskrankheiten sind epidemisch geworden. Der Missbrauch von Genussmitteln ist allgegenwärtig. Die Eindämmung dieser und einiger weiterer Entgleisungen erfordert ein weiteres Siebentel bis ein Sechstel dessen, was der Westen erwirtschaftet. Zusammen benötigt er also schon heute ein Viertel bis ein Drittel seiner Wirtschaftskraft ausschließlich um eine Wohlstandsfassade, nicht Wohlstand, aufrecht zu erhalten.

Was könnte, was sollte geschehen?

Am Anfang jeder Erfolgsstrategie steht die Einsicht in das was ist. Viele Völker des Westens stehen am Beginn einer Phase zahlenmäßiger Schrumpfung und rapider Alterung. Strategien, die für expansive, junge Völker taugen, taugen für sie nicht, auch wenn solche Strategien noch immer krampfhaft bemüht werden. Die Völker des Westens müssen sich ihrer Potentiale entsinnen. Mehrheitlich leben sie in den attraktivsten Regionen der Erde. Das kann schon heute, mehr aber noch in Zukunft, nicht hoch genug bewertet werden. Sie haben Wasser. Darüber hinaus verfügen sie über ein ungeheuer reiches kulturelles Erbe. Das ist ein wenig in den Hintergrund geraten. Für ihre künftige Entwicklung dürfte es von großer Bedeutung sein.

Auch ihre wirtschaftlichen Potentiale sind noch immer beträchtlich. Würden sie nur die krasseste Vergeudung abbauen und den Überfluss ein wenig eindämmen, könnten sie weiterhin in großem materiellem Wohlstand leben. Das allerdings setzt Veränderungen der bestehenden Sichtweisen voraus. Die Völker des Westens müssen wieder lernen, mit ihren Ressourcen sorgsamer, haushälterischer und vielleicht sogar weiser umzugehen als bisher.

Dabei sind sie selbst die kostbarste Ressource. Sie wurde und wird in mitunter erschreckender Weise vernachlässigt. Selten war eine nachwachsende Generation zu so hohen Anteilen so wenig auf ihre Aufgaben vorbereitet wie diese. Das kann und muss geändert werden - was keineswegs nur eine Frage des Geldes ist. Die Änderung beginnt bei den Eltern und setzt sich fort bis hin zu Hochschullehrern und Arbeitgebern. Die Gesellschaft braucht dringend wieder Orientierungspunkte, die auch durch Menschen verkörpert werden müssen. Solche Menschen - sie können als Eliten bezeichnet werden - fehlen weitgehend.

Werden diese Felder zusammen mit einigen anderen erfolgreich beackert, wird die Zukunft nicht sein wie die Vergangenheit, aber sie wird interessant und lebenswert sein, möglicherweise sogar interessanter und lebenswerter als die Vergangenheit war. Die Völker des Westens können der Welt vorleben, wie an Zahl abnehmende und stark alternde Gesellschaften mit begrenzten Mitteln und Möglichkeiten ein hohes materielles und immaterielles Wohlstandsniveau aufrecht erhalten können. Andere Völker werden dem mit großer Aufmerksamkeit folgen. Denn sie werden in wenigen Jahrzehnten dort sein, wo sich der Westen heute befindet. Ob diese Mission allerdings mit Parolen zu erreichen ist, wie sie in diesen Tagen wieder auf den Straßen und Plätzen zu hören sind, muss bezweifelt werden.

Prof. Meinhard Miegel

Quelle: http://www.zeitenwende.ch

Ich fand diesen Artikel hoch interessant.