an die Banken:
Wie du mir - so ich dir
Du kannst mich mal, könnte man auch sagen !
Die neue Zahlungs-Unmoral der US-Hausbesitzer
Viele Hausbesitzer in den USA hören einfach auf, ihre Kredite zu bedienen. Irgendwann ziehen sie aus – vom Gesetz fast unbehelligt.
Valerie und Chris Schreur blicken so strahlend in die Fernsehkamera, als sei ihnen ein Kind geboren worden.
„Eines Tages kam er von der Arbeit und sagte:
,Ich glaube, wir müssen aufhören, die Raten für unser Haus zu zahlen‘“, erzählt Valerie, die sich hübsch gemacht hat für ihren Auftritt vor der Nation.
Stolz sieht sie Chris an, dann den Interviewer:
„Und ich fragte: ,Hast du vollkommen den Verstand verloren?‘“
2010 verloren mehr als eine Million Hausbesitzer ihr Dach über dem Kopf an die Banken, eine nie zuvor erreichte Rekordzahl, zehnmal so hoch wie der Durchschnittswert in normalen Jahren.
Vier Millionen Wohnungseigentümer waren 2010 im Prozess der „Foreclosures“ (Zwangsräumungen) oder mindestens 90 Tage überfällig mit ihren Kreditzahlungen.
Neuerdings ist das Phänomen des "Walking away" entstanden: Hausbesitzer zahlen die Raten nicht und ziehen irgendwann einfach aus – meist ohne Probleme mit der Justiz zu bekommen.
Doch es gibt auch andere Fälle.
Arbeitslosigkeit ist in den USA mittlerweile der Hauptgrund dafür, dass jemand sein Haus verliert. Bei einer Arbeitslosenquote von neun Prozent können sich viele kein neues Haus leisten. Im Extremfall landen sie in einer Zeltstadt oder müssen im Auto leben.
Immobilien in den USA
Doch damals, vor 18 Monaten, begann die Selbstbefreiung der Schreurs. Für ihr Haus in Folsom (Kalifornien), das in zwei Jahren 58 Prozent seines Werts verloren hatte, zahlten die Schreurs von nun an keinen Cent mehr. Nicht weil sie sich das nicht mehr leisten konnten, sondern weil sie keinen Sinn mehr darin sahen.
Das Paar tilgte seine Kreditkartenschulden, ging gut essen, genoss das verfügbare Geld.
Dann, eines Tages, packten sie ihre Koffer, steckten die Hausschlüssel in einen an die Bank adressierten Umschlag, stiegen in ihr Auto und fuhren davon. „Wir hatten keine Schuldgefühle“, erklärt Chris, „es war nicht unethisch, es war eine Geschäftsentscheidung.“
Man könnte sagen, sie haben gehandelt wie ein Unternehmer !
1,5 Millionen Zwangsräumungen
Das Modell der Schreurs hat Zukunft in der seit drei Jahren wütenden Immobilienkrise der USA. „Strategic default“, also strategischer Zahlungsverzug, nennen das die Insider, oder auch „voluntary foreclosure“, freiwillige Zwangsräumung.
Zwei Drittel haben Eigentum
Mehr als zwei Drittel der Amerikaner sind Haus- oder Wohnungsbesitzer: Wer nicht (mehr) in seinem Eigentum lebt, wird aus dem amerikanischen Traum gerissen.
Vier Millionen Zwangsräumungen
Mehr als eine Million Eigner verloren 2010 ihr Dach über dem Kopf an die Banken, eine nie zuvor erreichte Rekordzahl, zehnmal so hoch wie der Durchschnittswert in normalen Jahren. Vier Millionen Wohnungseigentümer waren 2010 im Prozess der „Foreclosures“ (Zwangsräumungen) oder mindestens 90 Tage überfällig mit ihren Kreditzahlungen.
Gründe
Arbeitslosigkeit ist heute die wichtigste Ursache, bis vor Kurzem waren es „subprime loans“: Kredite an mittellose Verbraucher ohne Aussicht, je ihre Schulden zu bezahlen.
Reaktion der Regierung
2008 reagierte der Kongress, doch die Bedingungen für das Programm „Hope for Homeowners“ waren so streng, dass in den ersten drei Monaten nur 300 Bewerbungen vorlagen. Mit dem „Home Affordable Modification Program“ (HAMP), mit Banken ausgehandelte reduzierte Kreditzahlungen, stellte die US-Regierung im Jahr darauf 75 Milliarden Dollar Subventionen bereit; sie erreichte immerhin etwa eine Million Bedürftige.
Die Krise bleibt
Doch diese Hilfe kommt für zu wenige meist zu spät; auch die erstmals wieder steigende Sparrate der Haushalte, über Jahre im Minus, signalisiert keine rechte Hoffnung, solange die Immobilienpreise fallen und die Arbeitslosigkeit über neun Prozent verharrt. „Walking away“ ist kein guter Weg, aber ein Fluchtweg.
Es ist das Vokabular einer neuen Industrie, die Schuldnern das Gefühl von Scham und Versagen nehmen und einen Ausweg aus der Falle zeigen will. Etwa 1,5 Millionen Häuser sind im Jahr 2010 in den USA zwangsgeräumt worden, nachdem die Besitzer ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten. Oder nicht mehr bedienen wollten.
Auf 18 Prozent schätzen Branchenkenner die ständig steigende Zahl derer, die eines Tages einfach gehen – „walking away“.
Bei einem Wertverlust des Hauses von zehn bis 15 Prozent stellen immer mehr Amerikaner ihre Ratenzahlungen ein. Die Trägheit von Bürokratie und Banken schützt sie.
In Florida liegt die durchschnittliche Spanne zwischen Zahlungsabbruch und Zwangsräumung bei 518 Tagen, in New York sogar bei 561.
Wer die Nerven hat, wohnt folgenlos kostenlos.
Und das Beste: In vielen US-Staaten kann kein Gläubiger, ob Bank oder Kaufmann, eine Pfändung von Lohn oder Auto erwirken.
Am Ende verlieren die „walk-aways“ ihr Haus und für einige Jahre ihre Kreditwürdigkeit. Doch wenn sie klug sind und liquide, nutzen sie den Preissturz der Immobilien und das Pech zahlungsunfähiger Besitzer und kaufen sich größere Häuser zu Schnäppchenpreisen.
Ratgeber zum Weglaufen
Die Bankenindustrie gibt sich schockiert vom Sittenverfall ihrer Schuldner, zumal der Elite.
Sittenverfall aus dem Mund der Banker - das hat was !
In den vergangenen drei Jahren schnellte die Zahl der säumigen „Super-Prime“-Schuldner um 420 Prozent in die Höhe. Sie zählen nicht zu den 50 Prozent aller Verbraucherinsolvenzen, die wegen Krankheit und unbezahlbarer Arztrechnungen in Not geraten. Reiche folgen dem Rat von Spezialisten wie youwalkaway.com, die für sich werben wie Scheidungsanwälte: „Leiden Sie unter Stress wegen Ihrer Hypothekenzahlungen? Fällt es Ihnen schwer zu entscheiden, ob es finanziell Sinn ergibt wegzugehen?“ Und weiter:
„Müssen Sie wegen Job oder Familie umziehen und können nicht verkaufen?
Was, wenn Sie, ohne zu zahlen, acht Monate und länger in Ihrem Haus leben könnten und dann gehen, ohne einen Penny schuldig zu sein? Befreien Sie sich von einer Investition, die (nur noch) Geld kostet, und benutzen Sie unsere erprobte Methode des Walk-away.“
Wer mietet, ist dumm oder arm
Es heißt, die geplatzte Immobilienblase habe in den USA schon Werte in der unfassbaren Gesamtsumme von etwa zwei Billionen Dollar vernichtet.
In jedem Jahr seit 2008 haben etwa eineinhalb Millionen Familien ihr Zuhause verloren. Eine Wanderbewegung setzte ein, wie die USA sie seit den depressiven 30er-Jahren nicht erlebt haben.
Bis zu zwei Millionen Kinder sollten nach einer Studie der Familienorganisation First Focus bis Ende 2010 ihr Heim wegen geplatzter Hypothekenkredite verlieren. Amerikas Schulen melden besorgt, dass 40 Prozent der Kinder, die wechseln oder abgehen, von einer Zwangsräumung dazu gezwungen werden. Kinder jonglieren nicht cool mit „intelligentem strategischem Zahlungsverzug", sie leiden unter dem Verlust von Freunden, Vertrautheit, dem eigenen Zimmer.
Oft bleibt Familien, die ihr Heim verlieren, nichts übrig, als sich aufzuteilen und Verwandten zur Last zu fallen.
Nun rächt sich der über Jahrzehnte von Politik, Medien und Finanzindustrie gepflegte Fetisch des Eigenheims. Wer mietete, war dumm oder arm, lautete ein Credo des amerikanischen Traums. Wer sich wegen eines kleinen Gehalts mit einem kleinen Haus beschied, war ein unamerikanischer Trottel.
Die Raffgier der Wall Street gilt als kriminell
Also leben Susan Reboyras und Alex Pemberton in St. Petersburg (Florida) zufrieden und mit sich im Reinen mit ihrer drohenden Zwangsräumung. Seit sie der Bank mitgeteilt haben, dass sie nicht mehr zahlen, können sie sich wieder Ausflüge mit ihrem spritfressenden Propellerboot und Besuche im „Hard Rock Casino“ leisten. „Statt uns von dem Haus in den Abgrund ziehen zu lassen“, verriet Pemberton der „New York Times“, „haben wir es zu unserem Rettungsfloß gemacht.“
Er hatte versucht, mit der Bank bessere Konditionen auszuhandeln.
Doch die wollte nicht hören.
Nun fordern Alex und Susan, die mit umgerechnet 200.000 Euro in der Kreide stehen für ein Haus, das heute weniger als die Hälfte wert ist, die Bank heraus – soll man sie doch vertreiben, wenn man es schafft. Pembertons Mutter, die um die Ecke lebt und nach einer Krebserkrankung ihre Zahlungen vor zwei Jahren einstellte, nennt ihre Gläubiger „sämtlich Verbrecher“.
Die Raffgier der Wall Street, die Millionen Menschen Hauskredite ohne Sicherheiten aufdrängte, gilt den Verweigerern als kriminell, nicht ihr Walkaway aus Notwehr. Ihre Hypothekenkredite wurden an zig Besitzer in aller Welt verkauft, neu geschnürt und zerstückelt. Und haben sie, die Steuerzahler, die arroganten Hunde in den Pleitebanken nicht freigekauft? Warum sollen sich nun Schuldner, die sich aus eigener Kraft befreien, schuldig fühlen?
Gesetze haben Nachsicht mit Schuldnern
Fünf Jahre dauert es in der Regel, um bei guter finanzieller Führung eine beschädigte Kreditwürdigkeit zu reparieren. Bei staatlichen Kreditanstalten sind es nur drei Jahre, bis die Bonität nach einer Zahlungsunfähigkeit wieder auf respektable Höhen steigt. Wer die gesparten Raten gut investiert und andere Schulden begleicht, holt seine Kreditwürdigkeit noch rascher wieder aus dem Keller. Die US-Insolvenzgesetze sind erstaunlich nachsichtig und hilfsbereit gegenüber Schuldnern. Im Jahr 2007 erklärte jeder 300. Amerikaner seine private Insolvenz, mehr als irgendwo auf der Welt. Die Langmut hat Methode: Geringe Risiken beim Scheitern einer Geschäftsidee sollen Existenzgründer ermutigen. Selbst die unter US-Ökonomen als „hyperbolic discounters“ bekannten notorischen Zockertypen, aus Konsumsucht meilenweit über ihre Verhältnisse lebend, werden vom System geschützt. Wo bliebe Amerika, dessen Wirtschaft zu 70 Prozent vom Konsum seiner Verbraucher abhängig ist, wenn nur noch die Geld ausgäben, die es haben?
Sonderbar bleibt, wie wenig die neue Zahlungs-Amoral in der amerikanischen Bevölkerung goutiert wird.
Leserbriefschreiber schimpfen auf „low lives“ und „free riders“, Schmarotzer und Parasiten.
„Ein Hypothekendarlehen abzuzahlen ist keine Option, es ist eine Pflicht“, erregte sich ein Kritiker.
Ausreden mit weit schwereren Sünden der Banken seien inakzeptabel: „Selbst ein hübsch geschminktes Schwein bleibt widerwärtig und ein Schwein.“ Gestritten wird über so hehre Begriffe wie Verantwortung, Selbstbescheidung, Demut, Anstand, gleichsam über Kredit-Würde an sich.
Die US-Bankenvereinigung hütet sich aus gutem Grund, solche Ideale zu bemühen. Sie ermahnt die Walk-aways, sie möchten bedenken, was ihr Handeln für en Grundstückswert ihrer Nachbarn bedeute.
Und für die Kreditvergabe in ganzen Wohnvierteln.
Brave, zahlungswillige Bürger, die ihren amerikanischen Traum verwirklichen wollten, müssten so büßen für die Selbstsüchtigkeit einiger weniger.