Warum es Erdgas künftig im Überfluss gibt
Neue Gasfunde machen die USA unabhängig von Russland.
Dank modernster Technik wird auch in Europa nach unerschlossenen Vorkommen gebohrt. Der Markt steht vor einem historischen Umbruch – und einer ungeahnten Gasschwemme.
Die Nachricht ging fast unter, sie sah aus wie eine kleine Fußnote in der Geschichte zweier ewiger Rivalen:
Mitte Januar gab das amerikanische Energieministerium bekannt, dass die USA im vergangenen Jahr Russland als weltgrößten Erdgasproduzenten abgelöst haben.
Doch hinter dem nüchternen Befund steckt mehr. Viel mehr. Er ist ein erster Indikator dafür, dass sich das Kräfteverhältnis an den globalen Gasmärkten verschiebt. Und das damit verbundene politische Machtgefüge gleich mit.
Bisher gehorchte der internationale Gashandel einer einfachen Mechanik: Steigt die Nachfrage und wird das Angebot knapp, nimmt die Macht großer Förderstaaten wie Russland und Norwegen zu. In schöner Regelmäßigkeit folgen daraufhin die politischen Panikreflexe: Die Nato entwirft Bedrohungsszenarien, die darlegen, welch geostrategisches Gefahrenpotenzial von Russland ausgeht.
Und die Europäer zerbrechen sich den Kopf, wie sie sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas befreien können.
Ein technischer Durchbruch könnte diesen Automatismus jetzt außer Kraft setzen. Immer mehr Spezialfirmen vor allem in Amerika bohren nach sogenanntem nichtkonventionellem Erdgas – Gas also, das in dichten Ton- und Schieferschichten eingelagert ist.
Die Bergung dieser Vorkommen ist aufwendig. Die Bohrungen müssen erst vertikal tief in die Erde getrieben werden, um dann horizontal zu den Lagerstätten vorzudringen. Anschließend wird das Gestein hydraulisch aufgebrochen (siehe Grafik auf Seite 2). Doch dank der hohen Gaspreise ist diese teure Fördertechnik inzwischen konkurrenzfähig. Und die Funde übertreffen alle Erwartungen.
Mehr als die Hälfte der nachgewiesenen Erdgasreserven der USA entfallen bereits auf nichtkonventionelles Gas. Das Potential Gas Committee der Colorado School of Mines, einer führenden geowissenschaftlichen US-Universität, hob seine Schätzungen über die amerikanischen Gasressourcen jüngst um mehr als ein Drittel an: auf 58800 Milliarden Kubikmeter.
Die Experten überbieten sich geradezu mit feierlichen Kommentaren. Eine "stille Revolution" nennt Fatih Birol, Chefvolkswirt der Internationalen Energieagentur (IEA), die neuen Fördermöglichkeiten. Daniel Yergin, der Guru der Energieanalysten, spricht von der "wichtigsten Energieinnovation des Jahrzehnts".
Noch weiter geht Tony Hayward. Für den Chef des Ölkonzerns BP verändern die Funde den "Ausblick der Energiewirtschaft für die nächsten 100 Jahre".
Billiggas strömt auf den Markt
Für große Exporteure wie Gazprom werden die neu erschlossenen Lagerstätten im Schiefergestein zu einer echten Gefahr. Denn ihre milliardenschweren Investitionen in Förderstätten und Pipelines basieren auf der Annahme, dass Erdgas knapp und teuer bleibt.
Darauf ist jetzt kein Verlass mehr. Die Aussicht auf das Erschließen der zahlreichen nichtkonventionellen Gasvorkommen drückt längst auf die Preise.
Zumal sich das Überangebot in den USA auch auf Westeuropa auswirkt, den wichtigsten Absatzmarkt Russlands. Seit Erdgas sich tiefgekühlt und verflüssigt (LNG) per Schiff um den Globus transportieren lässt, ist für den Rohstoff ein echter Weltmarkt entstanden. Die Energiemultis haben im großen Maßstab LNG-Terminals errichtet und Tanker bestellt, weil sie mit einem gewaltigen Importbedarf der USA rechneten.
Eine dramatische Fehleinschätzung, wie sich mittlerweile zeigt. IEA-Chefökonom Birol vermutet, dass die US-Wirtschaft dank der neuen Quellen im eigenen Land gar kein Gas mehr einführen muss.
In ihrer Not suchen die Gasexporteure daher alternative Absatzmärkte für ihr Flüssiggas. Neben Japan setzen sie vor allem auf Europa. So steigt das Angebot, die Nachfrage hingegen ist wegen der Wirtschaftskrise eher mau. Die Folge: ein Preisverfall auf den europäischen Spotmärkten.
Die IEA ruft in ihrem Jahresbericht bereits eine "Gasschwemme" aus.
Angelockt von den spektakulären Funden stürzen sich die westlichen Energieriesen regelrecht auf das nichtkonventionelle Gas. BP und Norwegens Ölkonzern StatoilHydro haben Flächen und Explorationsrechte in Nordamerika erworben. Shell forscht in der Karoo-Ebene in Südafrika nach gashaltigem Gestein.
Und spätestens seit der weltgrößte Öl- und Gaskonzern Exxon Mobil im Dezember 41 Milliarden Dollar für die Spezialgasfirma XTO bezahlte, bewegt das Thema auch die Kapitalmärkte.
Selbst in Europa wird nach neuen Quellen gesucht. Royal Dutch Shell bohrt in Schweden und der Ukraine. In Polen drängt neben ConocoPhillips und Exxon Mobil ein Bündnis aus der britischen Aurelian Oil & Gas und dem Warschauer Energiekonzern PGNiG auf den Markt.
Auch in deutschem Boden schlummert nichtkonventionelles Gas. Nahe Konstanz etwa vermuten Forscher ein ergiebiges Feld. "An vielen Stellen gibt es Schwarzschieferhorizonte, die hoch angereichert mit organischen Substanzen sind", sagt Hilmar Rempel, Energieexperte der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover.
Die IEA schätzt die erschließbaren Vorkommen in der Alten Welt auf 35000 Milliarden Kubikmeter. Das würde den Bedarf Westeuropas rechnerisch rund 50 Jahre lang decken – vorausgesetzt der Verbrauch verharrt auf dem gegenwärtigen Niveau.
Am größten ist das Potenzial ausgerechnet in den Ländern, die besonders abhängig von russischem Gas sind – in Polen, Ungarn und der Ukraine. Der polnische Regierungsberater Maciej Wozniak träumt bereits davon, dass sein Land zum Gasexporteur aufsteigt.
Die neuen Fördermethoden verschieben nicht nur die ökonomischen, sondern auch die geostrategischen Kräfte. Polen, das seit jeher für seine Unabhängigkeit kämpft, könnte sich endlich aus der Umklammerung des Gasexporteurs Russland befreien. Das gilt ebenfalls für andere ehemalige Satellitenstaaten der Sowjetunion. Dem Streit um die Ostseepipeline, die russisches Gas direkt nach Deutschland bringen soll und die osteuropäischen Staaten dabei umgeht, wäre die Grundlage entzogen.
Der russische Energiemulti Gazprom verfolgt die Entwicklung mit einiger Besorgnis. Alexander Medwedew, Exportchef des Konzerns, gab sich bei einem Auftritt in Berlin zunächst betont gelassen. Dann ließ er jedoch kräftig Dampf ab: Man beobachte "eine hysterische Debatte", schimpfte Medwedew, die an den "Realitäten unserer Branche" vorbeigehe. Die sogenannte Gasschwemme werde nur von kurzer Dauer sein, warnte er.
Marktbeobachter halten das für rhetorische Ablenkungsmanöver. "Das Leben wird komplizierter für Gazprom", sagt Energieexperte Michail Kortschemkin, Chef der Beratungsfirma East European Gas Analysis. Die zahlreichen neuen Pipelines trieben die Lieferkosten für russisches Gas hoch, es werde kaum mit Schiefergas und Flüssiggas konkurrieren können.
Für das krisengeplagte Russland ist der aktuelle Überschuss auf dem Gasmarkt ein gewaltiges Problem. Im Zuge des weltweiten Abschwungs brach die Nachfrage nach russischem Gas ein, die staatlichen Einnahmen aus dem Rohstoffexport schmelzen dahin. Gazproms Steuerzahlungen tragen etwa ein Fünftel zum russischen Staatshaushalt bei. Sämtliche Erholungsszenarien für die russische Wirtschaft basieren auf einer Rückkehr der europäischen Gasnachfrage auf Vorkrisenniveau. Schon wird in Moskau ernsthaft darüber nachgedacht, die geplanten Investitionen im Norden des Landes einzufrieren. Sie dienten dem Ziel, den nordamerikanischen Markt mit flüssigem Gas zu beliefern.
Fällt jetzt die Ölpreisbindung weg?
Ein dauerhaftes Überangebot von Gas würde das Geschäftsmodell von Gazprom aushöhlen. Der russische Konzern arbeitet mit langfristigen Lieferverträgen, über die 70 Prozent der europäischen Gasimporte abgewickelt werden. Die Verträge koppeln den Gas- an den Ölpreis. An den Spotmärkten, an denen sich Käufer kurzfristig mit Rohstoffen eindecken, ist Gas seit Monaten um 30 bis 40 Prozent billiger zu haben als das Pipelinegas aus Russland oder Norwegen.
Die Gegner der Ölpreisbindung sehen in dieser Differenz nun endlich ihre Chance, die ungeliebte Koppelung zu beenden. Der Verkäufermarkt hat sich in einen Käufermarkt gewandelt. Sobald neue langfristige Verträge ausgehandelt werden, prophezeit IEA-Chefökonom Birol, werde es den Versuch geben, von der Bindung an den Ölpreis loszukommen. Exporteuren wie Gazprom empfiehlt Birol "mehr Einfallsreichtum bei der Preisgestaltung".
Soll heißen: Die Russen können nicht mehr nach Belieben ihre Bedingungen durchdrücken. Selbst die bestehenden Lieferverträge stehen zur Disposition. Die Abnehmer sehen in der Gasschwemme einen willkommenen Anlass, um nachzuverhandeln.
Werden also auch hierzulande die Gaspreise schon bald fallen?
Noch spüren deutsche Konsumenten von der Gasschwemme wenig. Deutschland hat keinen eigenen Terminal, um das billige Flüssiggas von den Tankschiffen ins Netz zu pumpen. Zudem stehen Pipelinebetreiber wie Ruhrgas im Verdacht, das Durchleiten des Billiggases zu blockieren. Und weil Öl derzeit wieder teurer wird, steigen die Gaspreise hierzulande sogar weiter. 84 Anbieter, meldet das Verbraucherportal Verivox, haben im Januar ihre Tarife um durchschnittlich 5,1 Prozent erhöht.
Auf Dauer wird aber auch Deutschland von den neuen Gasfunden profitieren. Einige Versorger mit kurzfristigen Lieferverträgen kaufen bereits billiger ein – und geben diesen Preisvorteil an ihre Kunden weiter. Ein Vier-Personen-Haushalt kann dadurch laut Verivox bis zu 300 Euro pro Jahr sparen. Sofern er sein Gas beim richtigen Anbieter bezieht.
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