Aktien-Inflation in Deflation?
Die Makrodaten dieser Woche waren wirklich furchtbar. Insbesondere der Verlauf der Auftragseingänge für langlebige Wirtschaftsgüter ist im Oktober dramatisch eingebrochen. Er fiel um 6,2 Prozent, Analysten hatten mit einem Minus im Bereich von 2,2 bis 2,5 Prozent gerechnet, im Vormonat betrug der Rückgang lediglich 0,2. Es ist die Abwärtsdynamik, die nicht nur dieses Makrodatum auszeichnet und entsprechend Sorge bereitet.
Die Aktienmärkte haben diese schlechten Nachrichten schließlich weggesteckt, nachdem sie schon die jüngsten Rettungsmaßnahmen der US-Regierung gefeiert hatten. Man kann den amerikanischen Politikern ein gutes Gefühl für Timing nicht absprechen. Gerade rechtzeitig in eine charttechnisch brisante Situation hinein und vor Beginn des Weihnachtgeschäftes werden Maßnahmen verkündet, die gezielt gegen die Kapitulation des amerikanischen Verbrauchers gerichtet sind.
Heute ist „Black Friday“ – der offizielle Start des Weihnachtsgeschäfts in den USA. Die Erwartungen sind divergent, die Positionen polarisieren sich. Die einen meinen, jetzt ist alles Negative bekannt, die nächsten Rettungsmilliarden sind auf dem Weg, also kann es nur noch besser werden. Die anderen glauben nicht, dass es nicht noch schlimmer kommen kann. Während die erste Position immun selbst gegen ein schlecht anlaufendes Weihnachtsgeschäft wäre und einen guten Start entsprechend feiern würde, nähme die zweite Position einen schlechten Black Friday als Bestätigung für die eigene Erwartung und würde einen besser als erwarteten Verlauf als „Ausreißer“ abtun.
Wer hat kurzfristig die besseren Karten? Die Aktien-Marktindikatoren der TimePattern zeigen passend zur Lage ein neutrales Bild – in der statischen Betrachtung herrscht mit 33 Prozent bullischen gegen 33 Prozent bärischen Indikatoren Gleichgewicht der Kräfte auf erhöhtem Niveau. In der Tendenz wird aber eine Verbesserung sichtbar - am Vortag lag das Verhältnis noch bei 17:50, einige Tage zuvor noch bei 0:83.
In der Detailbetrachtung spricht der ADL recht deutlich die Bullen. Der die Marktbreite messende TRIN zeigt eine extrem unruhige Bodenbildung, die sich jetzt in eine bullische Tendenz aufzulösen beginnt. Bei der Volumenverteilung ist die bullische Tendenz noch nicht entwickelt. Sie ist jetzt (noch sehr zögerlich) in Distribution – und damit ist die entscheidende Frage, ob die Seitenlinie weiter aufspringt. Wenn nicht, kann schnell wieder starker Verkaufsdruck aufkommen, noch laufen die über zehn Tage gemittelte Entwicklung von Kursen und Volumen nicht synchron.
Bullische Hoffnung beim Sentiment macht der normalerweise invers zu Aktienkursen agierende VIX. Der „Angstindex“ hat am Mittwoch gerade unter der wichtigen EMA50 geschlossen. Anfang November bot die EMA50 Widerstand gegen eine weiteren Fall des VIX und so kam es zu einem erneuten Kurssturz. Charttechnisch spricht am aktuellen Punkt mehr dafür, dass der Index den Durchbruch zumindest zeitweise schafft. Auch das aus dem Verhältnis zwischen S&P 500 und VIX erzeugte Signal könnte in Kürze auf extrem tiefem Niveau von neutral in bullisch kippen und untermauert so diese Einschätzung. Dies gilt auch für das aus der Entwicklung der Positionierung in Indexoptionen generierte Signal.
Auch wenn die Tendenz der betrachteten TimePattern-Indikatoren in die bullische Richtung weist, sind wirklich belastbare Wendepunkte bisher noch dünn. Dementsprechend kann es schnell zu einem technischen Betriebsunfall kommen. Ohnehin zeigt z.B. die „Technical Quality“, die Auswertung des viel beachteten MACD, der Stochastik und des RSI, dass die Bullen zuletzt relativ schnell vorgelaufen sind und eine Pause bräuchten.
Andererseits weist das „Faire KGV“ nach Fed-Modell einen extrem überzogenen Wert von über 33 aus. Ein solch hohes Niveau wurde seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Das spricht einerseits für die extreme Flucht in Sicherheiten, andererseits in der Tendenz aber auch dafür, dass Geld wieder aus Bonds abgezogen wird.
Extrem wichtig ist für den gesamten Finanzmarkt der IRX. Die Rendite der 13-wöchigen TBills hatte Anfang der Woche einen Hupfer von null auf 0,1 Prozent getan, fiel am Mittwoch aber wieder auf 0,03 Prozent zurück. Die Prognose der TimePatternAnalysis zeigt eine Aufwärtsbewegung auf zunächst 0,20 Prozent an. Das würde bedeuten, dass die extreme Risikoaversion in naher Zukunft etwas nachlässt und Geld vom Parkplatz in Assets verschoben wird. Zusammen mit dem extrem aufgeblasenen Bond-Segment ist sicher genügend „Treibstoff“ da, um die Aktienkurse hoch zu pushen.
Charts der erwähnten Indikatoren sind über diesen Artikel auf
www.timepatternanalysis.de zugänglich.
Damit erscheint folgendes Bild bei der Entwicklung der Aktienkurse wahrscheinlich: Heute dürfte wegen des „Black Friday“ zunächst eine unsichere, schwankende Haltung bestehen mit festerer Tendenz gegen Handelsschluss. Auf Sicht der nächsten fünf, sechs Handelstage dürften die Bullen das Feld dominieren, wie auch der Prognosechart des S&P 500 auf der Web-Seite der TimePattern zeigt. Darüber hinaus aber wird die Luft schon wieder dünn. Und wirklich langfristig belastbare Tiefs dürften noch 20 bis 30 Prozent unter dem aktuellen Niveau liegen.
Das übergeordnete fundamentale Bild trübt sich immer weiter ein und spricht nicht dafür, dass schon alles Negative bekannt und in den Kursen verarbeitet ist. Auch wenn es immer wieder heißt, Aktien sind so günstig bewertet wie nie – 1929 waren sie ebenfalls nicht teuer, und wurden noch viel billiger. Das dürfte für die aktuelle Situation ebenfalls gelten.
Unabhängig davon bleibt ein Argument für Aktien – sie sind reale Werte und Anteilsscheine gut aufgestellter und stabiler Unternehmen dürften in dieser Finanzkrise gegenüber Geldern auf Festgeldkonten irgendwann die sicherere und profitablere Alternative sein.
Nouriel Roubini sieht sich durch die miserablen Makrodaten der vergangenen Tage in seiner schon zuvor getroffenen Aussage bestätigt, das US-BIP werde im vierten Quartal um 4 bis 5 Prozent annualisiert fallen. Er warnt nun massiv vor einer deflationären Spirale. Und sieht am Horizont die Gefahr stark steigender realer Zinsen auf öffentliche Schulden.
Irving Fisher hat die Krise von 1929 eingehend untersucht und 1933 in seinem bekannten Artikel „The Debt Deflation Theory of Great Depressions” den Teufelskreis von Schulden und Deflation aufgezeigt. Der Nährboden für diesen Schulden-Deflations-Prozess liegt danach in folgendem: Vorangegangene Wirtschaftsphasen wurden als Beginn einer neuen Ära gedeutet. Die neue Entwicklungen eröffneten neue Investitionsmöglichkeiten und bescherten außerordentliche Gewinne. Der Optimismus schäumt über, die Verschuldung steigt. Dieser Fahnenstange folgt die Ernüchterung, die Kreditblase platzt.
Die Wirkungsmechanismen im Einzelnen führen über einen ersten, vergleichsweise kleinen Anlass, der Unternehmen und Haushalte dazu bringt, ihre überbordenden Schulden zurückzufahren, zu Notverkäufen. Das Preisniveau fällt, Vermögensverluste folgen. Buchgeld kontrahiert, die Zirkulationsgeschwindigkeit des Geldes sinkt. Unternehmensgewinne gehen zurück, Angst vor weiteren Verlusten greift um sich. Produktion, Handelsumsätze und Beschäftigung sinken, Konkurse und Arbeitslosigkeit steigen. Vertrauensverlust führt zu zunehmendem Pessimismus der Wirtschaftsubjekte. Geld und Sachwerte werden gehortet, die nachlassende Wirtschaftsaktivität führt zu weiterer Verlangsamung der Waren- und Geldumschlags. Das Zinsniveau sinkt nominal, steigt aber real, damit steigt die reale Schuldenlast. Usw.
Es fällt nicht schwer, Parallelen zu den zurückliegenden Jahren zu ziehen: Nach dem Platzen des Technologie-Hypes wurden die Zinsen weltweit stark abgesenkt, um den rezessiven Folgen zu begegnen. Die darauf folgenden Jahre hohen Wirtschaftswachstums führten zu einer stark steigenden Verschuldung der Konsumenten und Unternehmen. In den USA, Großbritannien, Spanien und anderswo wurde massiv in Immobilien investiert, die sich die meisten auf längere Sicht nicht leisten können.
Es brauchte nur einen kleinen Rückgang der Immobilienpreise und einen geringen Wachstumsknick - viele Hausbesitzer waren schnell überschuldet. Die daraus folgenden Not- und Zwangsverkäufe hatten und haben negative Auswirkungen auf andere Vermögenswerte. Aktien spielen dabei eine wichtige Rolle, weil sie in steigendem Maße zur Versorgung im Alter gedacht sind. Ein Vermögensverlust an dieser Stelle hat extreme Auswirkungen auf die gesamte Stimmung der Verbraucher und erzeugt eine stark pessimistisch geprägte Zukunftserwartung.
Anmerkung: Die überbordende Spekulation mit per Verbriefung weiterverkauftem Risiko ist in dem beschriebenen Mechanismus keine Ursache, wohl aber hinzukommende Verstärkung.
Fisher sieht nur zwei Auswege: “Laissez faire” mit Konkursen und wirtschaftlichem Zusammenbruch oder rasche und entschlossene Reflation, das kleinere Übel.
Im aktuell gegebenen historischen Kontext einer extremen Kreditblase ist die deflatorische Entwicklung quantitativ und im Zeitablauf besonders verheerend. Die US-Regierung konzentriert alle ihre Maßnahmen mittlerweile auf massive Reflationierung. Da Deflation aus aktueller Sicht als das größere Übel angesehen wird, wird die Gefahr einer späteren starken Inflation bewusst in Kauf genommen.
In einer deflatorischen Abwärtsspirale spielt mehr noch als in anderen Wirtschaftsphasen die Psychologie der Wirtschaftssubjekte eine entscheidende Rolle. Und die hängt in nicht unbeträchtlichem Ausmaß mit der Entwicklung der Aktienkurse zusammen. Was also liegt näher, als das eines (unschönen) Tages, wenn alle anderen Rettungsmaßnahmen versagt haben, der Staat selbst direkt als Großaufkäufer von Aktien auftritt? Wenn das geschieht, dann ist „Matthei, am letzten“. Von da an kann es nur noch besser werden, oder?
Kauft der Staat schon? Ja und nein. Im Rahmen seiner Maßnahmen beteiligt er sich an den zu rettenden Institutionen. Aber bisher zumindest hat er da eher in ein fallendes Messer gegriffen. Nicht zu vergessen auch all die Staatsfonds aus Nah- und Fernost. Ich denke, zunächst setzt man (zumindest in den USA) noch weiter auf Maßnahmen, die die Kaufkraft der Konsumenten stützen. Die massive Stützung der Aktienkurse kommt später.
Das Währungspaar Euro/Dollar wird auch weiterhin ein guter Indikator für die Befindlichkeit der Finanzmärkte sein. Ein festerer Dollar war zuletzt stets Begleiterscheinung aufflackernder wirtschaftlicher und finanzieller Bedenken – und umgekehrt. Bei Abfassung dieses Textes fällt der Kurs. Interessant, warum: Dollar/Yen steigt relativ zu Euro/Yen. Schreiben die „Amis“ von niedrigem Niveau aus wieder verstärkt Yen-Carry-Trades?